Spätsommer – Ernten, Loslassen, Fließen

Der Spätsommer ist die Jahreszeit der Fülle. Auf den Märkten stapeln sich Kürbisse, Äpfel und Trauben, die Felder stehen reich und satt, und die Luft trägt bereits den ersten Hauch von Abschied.

Es ist eine Zeit zwischen den Welten: nicht mehr Sommer, noch nicht Herbst. Genau dieser Übergang ist eine Einladung, den Zyklen des Lebens zu vertrauen – und uns daran zu erinnern, dass wir selbst Teil dieser Rhythmen sind.

Die Erde nährt

In der Traditionellen Chinesischen Medizin ist der Spätsommer dem Element Erde zugeordnet.

Erde bedeutet Stabilität, Vertrauen und Mitte. Es ist die Kraft, die uns trägt, wenn um uns herum alles im Wandel ist. Nach der Ausdehnung des Sommers schenkt uns die Erde den Moment, anzukommen: satt, genährt, balanciert. Sie fragt uns: Was hast du gesät – und was darfst du jetzt ernten?

Wenn wir im Element Erde verankert sind, entsteht Vertrauen – in uns, in andere, ins Leben. Fehlt diese Mitte, verlieren wir uns leicht im Grübeln und Sorgen. Balance finden wir, wenn wir den Kontakt zu unserem Körper stärken: durch achtsames Gehen, bewusstes Atmen, eine Yogapraxis, die uns erdet.

“So wie die Erde still alles trägt, können auch wir lernen, uns selbst zu tragen.”

Yoga und der Rhythmus des Lebens

Auch in der Yogaphilosophie finden wir Bilder für diesen Übergang. Patanjali beschreibt in den Yoga Sutras die Praxis von abhyasa (beständiges Üben) und vairagya (Loslassen). Der Spätsommer erinnert uns daran: Wir haben genährt, gepflegt, gewässert – nun ist es Zeit zu ernten. Doch die eigentliche Kunst liegt im Vertrauen, nicht festzuhalten.

Vertrauen bedeutet, dass wir den natürlichen Lauf der Dinge anerkennen. Ein Apfel reift, wenn seine Zeit gekommen ist – nicht, wenn wir ihn früher pflücken. Ebenso entfalten sich auch in unserem Leben manche Prozesse erst im richtigen Moment.

Yoga lehrt uns, den Prozess wertzuschätzen, nicht nur das Ergebnis. In der Praxis spüren wir das ganz konkret: Wir treten auf die Matte, üben Atem für Atem, Haltung für Haltung. Manche Asanas öffnen sich uns nach Jahren, andere bleiben verschlossen. Doch beides ist Teil des Weges. Vertrauen heißt, die Zeit arbeiten zu lassen – und im Rhythmus des eigenen Lebens zu bleiben.

Der Spätsommer ist ein Spiegel dieses Prinzips. Er erinnert uns: Die Natur hetzt nicht. Ein Zyklus löst den nächsten ab, ohne Hast, ohne Zögern. In uns selbst dürfen wir denselben Rhythmus finden – das Vertrauen, dass auch unsere innere Reifezeit nicht beschleunigt werden muss.

„Der Weise handelt, ohne zu haften, und findet dennoch Erfüllung.“ -Bhagavad Gita

Vielleicht ist das der tiefere Sinn dieser Jahreszeit: dass wir lernen, sowohl das Handeln als auch das Lassen als zwei Seiten derselben Praxis zu begreifen.

Einatmen – Ausatmen. Aktivität – Ruhe. Säen – Ernten. Leben – Loslassen.

Alles folgt einem Zyklus. Alles hat seine Zeit.

Deine Pflicht ist es zu handeln, nicht die Früchte deines Handelns zu erwarten.
— Bhagavad Gita
 

Psychologie, Neurowissenschaft & Achtsamkeit

Die Psychologie spricht von Selbstwirksamkeit: dem Vertrauen darauf, dass unser Handeln etwas bewirkt, auch wenn Ergebnisse nicht sofort sichtbar sind. Dieses Vertrauen wächst nicht durch Beschleunigung, sondern durch Wiederholung und Erfahrung. Genau das üben wir in der Achtsamkeit: immer wieder zurückzukehren in den Moment, ohne sofortige Ergebnisse zu erwarten.

Die Neurowissenschaft zeigt, dass Achtsamkeitspraxis das Gehirn verändert. Strukturen im präfrontalen Cortex, die mit Gelassenheit, Klarheit und Vertrauen verbunden sind, stärken sich. Gleichzeitig beruhigt sich die Amygdala, die Alarmglocke unseres Nervensystems. Mit anderen Worten: Indem wir regelmäßig üben, einfach im Jetzt zu sein, trainieren wir die Fähigkeit, Zyklen auszuhalten, Übergänge willkommen zu heißen und Vertrauen zu entwickeln.

Jon Kabat-Zinn beschreibt Achtsamkeit als die Kunst, mit dem Leben so umzugehen, wie es sich entfaltet.“

Genau das spiegelt der Spätsommer wider: nicht gegen die Veränderung ankämpfen, sondern Teil des Wandels werden.

Und die Psychologie fügt hinzu: Rituale stärken Vertrauen.

Der Blick auf wiederkehrende Rhythmen – die Jahreszeiten, den Atem, die Meditation – wirkt wie ein inneres Geländer. Wir brauchen diese Geländer nicht, um uns festzuklammern, sondern um uns sicher genug zu fühlen, wieder loslassen zu können.

Die Erde hat Musik für alle, die zuhören.
— George Santayana
 

🌿 Reflexionsimpuls

Der Spätsommer lädt dich ein, innezuhalten und auf deine persönliche Ernte zu blicken:

  • Was ist in diesem Jahr bei dir gereift?

  • Welche Früchte darfst du jetzt anerkennen – sichtbar oder unsichtbar?

  • Wo kannst du loslassen, im Wissen, dass auch die nächste Saat wieder wachsen wird?

 
Die Natur eilt nicht – und doch wird alles vollbracht.
— Laotse

Meditation zum Spätsommer

Finde einen bequemen Sitz oder lege dich hin. Schließe die Augen und atme ein paar Mal tief durch.

Spüre den Kontakt deines Körpers mit dem Boden. Stell dir vor, wie die Erde dich trägt – ruhig, geduldig, verlässlich. Mit jedem Ausatmen sinkst du ein Stück tiefer in diese Tragkraft hinein.

Lenke nun deine Aufmerksamkeit in den Bauchraum. Lege eine Hand dorthin und spüre, wie sich deine Mitte mit jedem Atemzug hebt und senkt. Stell dir vor, dass hier deine innere Erde ruht – dein Gleichgewicht, deine Stärke, dein Vertrauen.

Mit jedem Einatmen darfst du aufnehmen, was dich nährt: Wärme, Fülle, Dankbarkeit. Mit jedem Ausatmen darfst du loslassen, was du nicht mehr tragen musst: Sorgen, Grübeleien, Enge.

Wenn Gedanken auftauchen, lass sie weiterziehen – so wie der Sommer langsam dem Herbst den Platz überlässt. Alles hat seine Zeit. Alles findet seinen Rhythmus.

Bleib für einige Atemzüge in diesem Gefühl, getragen und verbunden zu sein.

Und wenn du die Augen wieder öffnest, nimm dieses stille Wissen mit:

Du bist Teil des Zyklus. Du musst nicht alles festhalten. Du darfst vertrauen.

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KULA – Gemeinschaft als Praxis