Yoga & Emotionen
Wenn Gefühle den Körper übernehmen
Vielleicht kennst du das: Ein unerwartetes Gespräch lässt dich innerlich erzittern, eine schlechte Nachricht drückt buchstäblich auf den Magen, Trauer schnürt dir den Hals zu. Emotionen sind keine rein geistigen Phänomene – sie sind körperlich spürbar. Sie beeinflussen Atem, Haltung, Muskeltonus, ja sogar unseren Stoffwechsel.
Die moderne Psychologie spricht von „embodied emotions“: Gefühle, die wir nicht nur denken, sondern auch verkörpern. Was die Forschung heute mit Messgeräten beschreibt, wussten alte Traditionen längst: Erfahrungen hinterlassen Spuren, sichtbar im Körper, fühlbar im Geist.
Doch wie ging der Yoga ursprünglich damit um? Und wie können wir dieses Wissen heute nutzen, um im Alltag mit Emotionen gesünder umzugehen?
“Der Körper ist das Tagebuch unserer Gefühle.”
Alice Miller
Upanishaden – der Gedanke als Samen
In den Upanishaden, jenen frühen spirituellen Texten Indiens, taucht zum ersten Mal die Idee auf, dass Eindrücke nicht verschwinden.
Sie prägen uns, werden Teil unseres Wesens. Die Upanishaden beschreiben den Menschen als ein Geflecht aus Körper, Atem, Geist und innerem Selbst. Eindrücke, die wir nicht verarbeiten, sinken in tiefere Schichten dieses Geflechts. Dort wirken sie weiter – wie unsichtbare Samen, die unser Denken, Fühlen und Handeln prägen. So wird verständlich, warum Yoga nicht nur eine körperliche Praxis ist, sondern ein Weg, die verborgenen Spuren in uns ans Licht zu holen.
„Wie ein Mensch denkt, so wird er. Aus seinen Gedanken erwachsen Worte, aus den Worten Taten, aus den Taten Gewohnheit. Und Gewohnheit prägt den Charakter.“
Das bedeutet: Nichts, was wir erleben oder tun, ist neutral. Jeder Gedanke, jedes Gefühl, jede Handlung sät einen Samen, der in uns Wurzeln schlägt. Wir tragen unser eigenes Archiv in uns.
Buddhismus – Formationen des Geistes
Zur gleichen Zeit formte sich im Buddhismus ein ähnlicher Gedanke. Hier heißen diese Prägungen Sankhara, die „Formationen“.
Hier wird für diese Prägungen das Wort saṅkhāra verwendet – die „Gestaltungen des Geistes“. Sie entstehen aus unseren Taten, Worten und Gedanken und setzen sich als Gewohnheiten fest. Gerade im Umgang mit Emotionen bedeutet das: was wir immer wieder verdrängen oder unbewusst nähren, wird zur Tendenz, die unser Leben bestimmt. Achtsamkeitspraxis ist daher ein Werkzeug, um diesen Kreislauf sichtbar zu machen und Schritt für Schritt zu unterbrechen.
„Alles, was wir sind, entsteht aus unseren Gedanken. Mit unseren Gedanken erschaffen wir die Welt.“
Sankhara sind keine „bösen“ Muster, sondern neutrale Kräfte. Aber solange wir sie nicht bewusst wahrnehmen, bestimmen sie unser Handeln – automatisch, reflexhaft. Achtsamkeitspraxis bedeutet im Buddhismus: diese Formationen sehen, ohne sie weiterzuspinnen.
Patañjali – Samskaras im Yogasutra
Auch Patañjali greift das Thema in seinem Yogasutra auf und beschreibt, wie sie sich im Bewusstsein ablagern.
Samskaras bilden die Grundlage für unsere vāsanās – unbewusste Neigungen, die uns immer wieder in ähnliche Muster treiben. Für die Praxis heißt das: Jeder Atemzug, jede Meditation ist eine Gelegenheit, ein altes Muster zu schwächen und neue, heilsame Spuren im Geist zu legen. Yoga wird so zu einem Prozess der Neuprägung – weniger Reiz-Reaktion, mehr Freiheit.Für ihn sind Samskaras die Eindrücke, die durch jede Erfahrung in unserem Unterbewusstsein gespeichert werden.
Das Ziel der alten Yogis war nicht, Emotionen feinfühliger wahrzunehmen – sondern sich von diesen Prägungen zu befreien. Ihr Weg war ein radikaler: das Unterbrechen der Muster, bis der Geist zur Ruhe kommt.
Moderne Brücke: Emotionen im Körper verstehen
Die alten Yogis sprachen von Samskaras, wir heute sprechen von psychosomatischen Zusammenhängen.
Psychosomatik – wenn Gefühle den Körper schreiben
Der Begriff psychosomatisch bedeutet wörtlich: Seele (Psyche) und Körper (Soma) gehören untrennbar zusammen. Jede seelische Erfahrung hat eine körperliche Resonanz – und umgekehrt. Das ist keine moderne Erfindung: Schon in der Antike sprach Hippokrates von der „Einheit von Körper und Seele“. Doch erst die heutige Medizin kann zeigen, wie eng diese Verbindung ist.
Gefühle als körperliche Sprache
Angst aktiviert das sympathische Nervensystem: der Herzschlag beschleunigt sich, Atem wird flach, Muskeln spannen sich an.
Trauer geht oft mit Enge in der Brust einher, Tränenfluss, Müdigkeit.
Wut führt zu erhöhter Muskelspannung, Kieferpressen, Blutdruckanstieg.
Stress wirkt systemisch: die Verdauung wird gehemmt, Hormone wie Cortisol überschwemmen den Körper.
Viele dieser Reaktionen sind sinnvoll – sie sichern unser Überleben. Doch wenn Gefühle chronisch unterdrückt oder nicht verarbeitet werden, bleiben Körper und Nervensystem in einem Alarmzustand. Das zeigt sich dann als somatische Beschwerden: Migräne, Verdauungsprobleme, Herz-Kreislauf-Störungen, chronische Schmerzen.
Die psychosomatische Forschung betont: Gefühle, die keinen Ausdruck finden, schreiben sich in den Körper ein.
„Das Trauma lebt nicht in der Geschichte, sondern im Körper.“
Trauma ist hier nicht nur ein großes Schockerlebnis, sondern auch die kleinen, wiederholten Überforderungen des Alltags.
Yoga kann uns helfen, diese Spuren wahrzunehmen und ihnen Raum zu geben, statt sie immer weiter in den Körper zu drängen. Er verbindet Bewegung, Atem und Achtsamkeit, sodass wir unbewusste Spannungen wahrnehmen können, bevor sie sich chronisch verfestigen.
Faszien – das „zweite Nervensystem“
Faszien sind weit mehr als bloßes Bindegewebe. Sie bilden ein gigantisches Netzwerk, das den gesamten Körper durchzieht – von der Kopfhaut bis zu den Fußsohlen. Jede Muskelbewegung, jede Organfunktion, jede Körperhaltung wird über die Faszien vermittelt.
Anatomie und Bedeutung
Faszien bestehen aus Kollagenfasern, Wasser und Zellen, die fortlaufend Umbauprozesse steuern.
Sie sind reich innerviert: mehr als sechs Mal so viele Rezeptoren wie Muskeln.
Sie reagieren auf Zug, Druck, chemische Signale – und sogar auf Stresshormone.
Damit sind sie nicht nur ein mechanisches, sondern auch ein sensorisches Gewebe.
Faszien als emotionales Archiv
Neuere Studien zeigen: Faszien speichern nicht nur Bewegungserinnerungen, sondern auch emotionale Muster. Bei Stress ziehen sie sich zusammen, verlieren ihre Gleitfähigkeit, werden „verfilzt“. Chronische emotionale Belastungen zeigen sich deshalb oft als diffuse Schmerzen, die medizinisch schwer erklärbar sind.
Robert Schleip betont:
„Faszien sind ein eigenständiges Sinnesorgan – und gleichzeitig das emotionalste Gewebe unseres Körpers.“
Wer schon einmal in einer Yin- oder Restorative-Haltung lange im Hüft- oder Herzraum verweilt hat, kennt es: Plötzlich steigen Erinnerungen oder Gefühle auf, manchmal sogar Tränen – scheinbar ohne Grund. Aus faszialer Sicht ist das logisch: Mit dem Nachgeben des Gewebes lösen sich gespeicherte Spannungen, die oft emotional verknüpft sind. Viele Praktizierende berichten, dass in einer Hüftöffnung plötzlich Tränen fließen – ohne klaren Grund. Das ist kein Zufall, sondern Ausdruck der engen Verbindung zwischen Körper und Gefühl.
Faszien & Yoga
Yoga ist wie geschaffen für die Arbeit mit Faszien:
Lange Dehnungen (Yin Yoga) regen den Umbauprozess im Gewebe an.
Bewegungsvielfalt (Vinyasa, freies Fließen) macht Faszien geschmeidig.
Sanfte Schwingungen (z. B. Katastretch, federnde Bewegungen) verbessern Elastizität.
Achtsamkeit hilft, die körperlichen Empfindungen mit emotionalen Prozessen zu verbinden.
Damit ist Yoga nicht nur Training für Muskeln, sondern ein Reset für das fasziale System – und damit für die emotionale Regulation.
Reflexion: Sanft hinschauen
Yoga heißt nicht, dass wir alle Emotionen sofort „auflösen“. Vielmehr üben wir, hinzuschauen, ohne zu fliehen. Vielleicht kannst du dir nach der Praxis folgende Fragen stellen:
Welche Gefühle haben sich heute im Körper gezeigt?
Gibt es einen Ort im Körper, der oft „meldet“, wenn Emotionen auftauchen?
Wie fühlt es sich an, ein Gefühl zu benennen, statt ihm auszuweichen?
Diese Fragen sind keine Pflicht – sie öffnen lediglich Türen.
(d)Eine Mini-Sequenz für emotionale Balance
1. Ankommen – Atem spüren (5 Minuten)
Setz dich aufrecht hin, schließe die Augen, lege die Hände auf den Bauch. Atme tief ein und aus. Beobachte, wie Gefühle im Körper sichtbar werden, ohne sie ändern zu wollen.
2. Öffnen – Hüft- und Herzraum (10 Minuten)
Supta Baddha Konasana: Lehn dich zurück, die Fußsohlen berühren sich, Knie liegen auf Kissen.
Supported Bridge: Auf dem Bolster, um den Herzraum weit werden zu lassen.
Diese Positionen öffnen Räume, in denen Emotionen oft „gespeichert“ sind.
3. Regulieren – Atem verlängern (5 Minuten)
Zähle beim Einatmen bis 4, beim Ausatmen bis 8. Das verlängerte Ausatmen beruhigt das Nervensystem.
4. Loslassen – Restorative Child’s Pose (10 Minuten)
Lege dich nach vorne über ein Bolster, Stirn aufgestützt. Bleibe still. Lass Gefühle auftauchen, ohne sie festzuhalten.
5. Integrieren – Meditation (10 Minuten)
Sitze aufrecht, nimm wahr, was jetzt da ist. Wenn Gefühle kommen, benenne sie leise: „Da ist Traurigkeit. Da ist Freude.“ Und dann kehre zurück zum Atem.
Yoga eröffnet uns die Möglichkeit, Emotionen nicht länger als Gegner zu betrachten, sondern als Botschafter, die uns Hinweise geben – auf das, was uns bewegt, verletzt oder inspiriert. Mit Atem, Bewegung und Stille schaffen wir einen Raum, in dem Gefühle nicht weggedrückt werden müssen, sondern sich wandeln dürfen.
Es geht nicht darum, immer „in Balance“ zu sein. Sondern darum, die eigene Lebendigkeit zu spüren – auch wenn sie manchmal stürmisch ist.
„Lass dir jeden Tag die stillste Stunde heilig sein.“