Sommersonnenwende – Vom Leuchten, das uns erinnert

Ein Tag, der sich dehnt. Der nicht endet. Die Sonne steht so hoch, als würde sie sagen: Schau noch einmal genau hin. Auf dein Leben. Deine Richtung. Auf das, was da ist.

Die Sommersonnenwende, am 21. Juni, ist nicht nur ein astronomisches Phänomen – sie ist eine Einladung, uns im Licht zu spiegeln. Im Außen wie im Innen. Es ist der längste Tag des Jahres, der Höhepunkt des Lichts, aber auch der Wendepunkt: Von nun an werden die Tage wieder kürzer.

Diese doppelte Bedeutung – Fülle und Abschied, Licht und Loslassen – macht die Sommersonnenwende zu einem so kraftvollen Moment im Jahreskreis. Sie erinnert uns an das zyklische Wesen des Lebens. Nichts bleibt, alles wandelt sich. Und manchmal braucht es genau diesen stillen Kipppunkt, um etwas in uns neu zu justieren.

Let reality be reality. Let things flow naturally forward in whatever way they like. Those who flow as life flows know they need no other force.”

aus dem Tat Te Ching

Lichtfeste in aller Welt – der längste Tag als Ritual

Schon vor tausenden Jahren feierten Menschen rund um den Globus die Sommersonnenwende. Bei den Kelten hieß das Fest Litha – das Licht wurde geehrt, das Feuer entzündet, Kreise getanzt. Es war ein Fest der Erde, des Lebens, der Gemeinschaft. Auch in Schweden, Norwegen und Finnland ist Mittsommer bis heute eines der wichtigsten Feste überhaupt. Hier wird nicht nur die Sonne gefeiert – sondern auch das, was sie ermöglicht: Wachstum, Fruchtbarkeit, Verbindung.

In südlicheren Regionen der Welt war die Sommersonnenwende oft ein Moment des Dankes an die Sonne als göttliches Prinzip – als Quelle des Lebens und als Hüterin des Rhythmus.
In den Anden etwa wurde Inti Raymi gefeiert, das große Sonnenfest der Inka. Und in den Tempeln des alten Ägypten war es der Sonnenstand, der heilige Tage markierte, nicht der Kalender.

Der Kreis des Jahres war für diese Kulturen mehr als eine Abfolge von Monaten – er war Spiegel des inneren Lebens. Und genau darin liegt die Einladung auch für uns heute:


Wie spiegelt sich der Wandel des Lichts in deinem Inneren?

Surya – das innere Licht im Yoga

Auch im Yoga hat die Sonne eine tiefe Bedeutung. Nicht nur als Lichtgeberin am Himmel, sondern als Symbol für das innere Leuchten – Bewusstsein, Klarheit, Präsenz. Surya, der Sonnengott im Hinduismus, verkörpert Lebensenergie (Prana), Führung und Wahrheit.

Die Praxis von Surya Namaskar – dem Sonnengruß – ist eine der ältesten, überlieferten Abfolgen von Asanas. Sie ist nicht einfach ein körperliches Aufwärmprogramm. Sie ist eine Form der inneren Widmung: ein tägliches Ritual, um sich mit dem Licht zu verbinden – dem außen wie dem innen. Jeder Lunge, jede Vorbeuge, jede Herzöffnung ein Akt bewussten Spürens.

Zur Sommersonnenwende laden viele Yoga-Traditionen dazu ein, 108 Sonnengrüße zu praktizieren. Eine Meditation in Bewegung, ein Ritual des Übergangs, eine kraftvolle Form des „Durchlässig-Werdens“. Die Zahl 108 ist dabei nicht zufällig – sie gilt im Yoga als heilig: 108 Perlen auf einer Mala, 108 Upanishaden, 108 Energiekanäle, die ins Herz führen. Die Praxis kann herausfordernd sein – aber sie trägt auch: Wenn das Denken sich auflöst, bleibt nur noch Atem und Präsenz.

Was bleibt, wenn alles hell ist?

Die Sommersonnenwende ist nicht nur eine Einladung zur Bewegung – sondern vor allem zum Innehalten. Denn: Wenn alles hell ist, wird auch der Schatten sichtbar. Wenn wir uns mit der vollen Wucht des Lichts konfrontieren, dürfen wir auch das würdigen, was noch nicht im Licht steht.

Vielleicht fühlst du dich gerade auf dem Höhepunkt – kreativ, inspiriert, voller Energie.
Vielleicht auch müde, überfordert vom Tempo der Welt, vom Anspruch zu leuchten, während du dich nach Rückzug sehnst.

Beides darf sein. Denn der längste Tag ist auch der Beginn der Rückkehr zum Dunkel.
Es ist genau diese Spannung zwischen Licht und Schatten, Fülle und Stille, die uns reifen lässt.

Es ist das Licht, das die Schatten tanzen lässt – nicht das Dunkel.
— Hafis (frei übertragen)

Journaling-Fragen zur Sommersonnenwende

Nimm dir ein paar ruhige Minuten. Vielleicht morgens mit dem ersten Sonnenstrahl. Vielleicht am Abend, wenn das Licht langsam weich wird. Vielleicht einfach zwischendurch.

Schreib ohne zu werten. Ohne Ziel. Nur mit dem Wunsch, dir selbst zuzuhören.

1. Rückblick – auf das, was gewachsen ist

  • Was durfte in den letzten Monaten in mir entstehen?

  • Welche Entscheidung war mutig – auch wenn sie leise war?

  • Worauf kann ich heute mit einem stillen Stolz blicken?

2. Erkennen – was sich zeigen will

  • Was steht jetzt in meinem Leben im vollen Licht?

  • Welche Schatten habe ich bisher vermieden?

  • Welche meiner Anteile brauchen mehr Raum, mehr Licht, mehr Liebe?

3. Ausblick – was reifen darf

  • Welche Sehnsucht möchte ich ernst nehmen?

  • Was darf jetzt in mir wachsen, wenn ich es nicht bremse?

  • Mit welcher inneren Qualität möchte ich in die zweite Jahreshälfte gehen?

Slow down. Calm down. Don’t worry. Don’t hurry. Trust the process.
— Alexandra Stoddard

Ritualidee zur Sommersonnenwende

Du brauchst nicht viel – aber du brauchst ein paar Minuten, in denen du wirklich da bist.

  • Zünde eine Kerze oder ein kleines Feuer an – symbolisch für das innere Licht.

  • Schreibe auf, was du loslassen möchtest. Worte, Sätze, Bilder – alles darf auf Papier.

  • Lies es dir leise vor, bevor du es in einem sicheren Rahmen verbrennst oder vergräbst.

  • Atme. Fühle. Und dann schreibe drei neue Sätze, mit denen du in die zweite Jahreshälfte gehen möchtest.
    Vielleicht: Ich darf leuchten. Ich darf ruhen. Ich darf wählen.

Sommersonnenwende heißt nicht: mehr tun. Sondern: mehr fühlen.

Dieser Tag ist kein Event. Er ist ein stiller Moment, den du bewusst gestalten darfst. Mit Feuer oder mit Wasser. Mit 108 Sonnengrüßen oder einem einzigen bewussten Atemzug. Mit Freunden oder ganz für dich allein.

Was zählt, ist die Erinnerung: Du bist Teil dieses Rhythmus. Du darfst wachsen, blühen, loslassen. Und du darfst neu beginnen – jederzeit.

In diesem Sinne wünschen wir dir einen lichtvollen Wendepunkt.

Wenn du das Licht in anderen suchst, vergiß nicht, auch dein eigenes zu würdigen.
— Rumi
 

Sharon, Nell und Carli zeigen dir in Kürze unsere Sequenz für diesen besonderen Tag, die sich besonders für Sonnenaufgang-oder untergang eignet.

Happy Welt-Yogatag!

  1. Ankommen im Sitzen – Hände auf dem Herzraum, Atem spüren

  2. 3–5x Surya Namaskar – fließend, bewusst

  3. Anjaneyasana – Herz öffnen, Licht einatmen

  4. Virabhadrasana II + Reverse Warrior – Richtung und Hingabe

  5. Trikonasana – Klarheit im Körper

  6. Ardha Chandrasana – Balance und Leichtigkeit

  7. Uttanasana mit verschränkten Armen – loslassen

  8. Supta Baddha Konasana mit Atemfokus – empfangen

  9. Savasana mit innerem Leuchten – ruhen im Licht

Dauer: 20–40 Minuten – oder so lang, wie du magst.

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Hridaya – Die Weisheit des Herzens